Der Plan sieht vor, dass ich am 23.12. noch einmal ausrücke,
um die letzten Geschenke zu besorgen. Der Großteil liegt bereits zu Hause,
Ideen für den Rest habe ich im Kopf. Ich frage mich heuchlerisch: „Was soll
schon schief gehen?“
Der Weg in die Stadt ist gespenstisch. Die Gesichter in der
S-Bahn gucken verängstigt gen Boden. Jeder steht in einem inneren Monolog mit
sich selbst. Ist man bereit für das Bevorstehende? Noch könnte man aussteigen,
Weihnachten ausfallen lassen, das Land verlassen, eine neue Identität annehmen
oder einfach klassisch vor den Zug springen. Während der Wagon uns in die
Schlacht fährt, sieche in einem Gefühlsgemisch aus Selbsthass, Furcht und
Resignation vor mich hin. Gepaart mit der Menge Adrenalin, das versucht, meinen
Körper vom kompletten Zusammenbruch zu bewahren, lässt dieser Zustand des
Öfteren einen jegliche Rationalität abhandenkommenden Gedankengang aufblitzen.
Vielleicht sind die Geschäfte gar nicht so voll. Vielleicht haben alle einfach
zu großen Respekt vor dem 23.12.. Heute gehen schließlich nur komplette Idioten
einkaufen.
Hauptbahnhof, die Tür öffnet sich, ich trete ein in das
schier endlose Heer von Idioten. Am 23.12. schaltet der Geist in der Stadt auf
Schwarmintelligenz. Ich bin nun mehr Tier als Mann. Die Masse drückt mich ins
erste Geschäft. Mit orientierungslosem Blick versuche ich, die Lage zu
einzuordenen. Ich brauche Hilfe, weiß nicht, wo bzw. ob meine Geschenkideen hier
kaufbar sind. Angestellte gefragt, Jackpot! Im Untergeschoss, ganz durch.
Gefunden. Jetzt zur Kasse. Zehn Leute vor mir. Überraschend entspannt. Nach
kurzer Wartezeit lege ich die Ware auf den Tresen. Schrecksekunde. Das Teamwork
der Kassiererinnen schlägt fehl, der Artikel wird zweimal eingescannt. Ein
lockerer Spruch bewahrt den Frieden in dieser Stresssituation. Der Schwarm ist
angespannt. Ich werde ins nächste Geschäft getragen und fühle mich auf einmal,
als müsse ich James Ryan finden. Der Saturnmarkt am Hauptbahnhof, Ort unendlich
vieler Stunden spaßiger Shoppingkunst, stellt heute die vorderste Front dar,
das Epizentrum. Es stehen mehr Menschen an den Kassen, als nötig wären, um noch
bis zum 24. eine komplette Pyramide zu errichten, 2500 BC Style. Meine
Körpertemperatur steigt spontan auf unangenehme 48 Grad. Ich blicke zur „Wir
sind für Sie da“-Wand, wo die Bilder der Angestellten den lächelnden Kontrast
zu ihren jetzigen Erscheinungen bilden. Jegliche Form der Menschlichkeit ist
aus diesen Wesen gewichen. Sie funktionieren einfach nur noch. Nicht alle von
ihnen werden es heute schaffen, zu mächtig ist der Schwarm, der hier mit voller
Härte zuschlägt. Mein Selbsthass hat nun seinen Zenit erreicht. Ich stehe an
einer Kasse an, die ich eigentlich gar nicht sehen kann. Stehe ich überhaupt
an? Ich blicke auf die CDs in meiner Hand und ergreife mich bei dem Gedanken,
ob deren Kanten scharf genug wären, mir die Pulsadern aufzuschneiden.
Spätestens jetzt bereue ich es, dass ich den Rucksack voller Pfandflaschen
habe, die ich auf dem Rückweg abgeben wollte. Ich muss sämtliche
Bekleidungsschichten in meinen Armen balancieren, um nicht in Flammen
aufzugehen.
Zeitloch. Ich stehe vor dem Geschäft, bin acht Jahre
gealtert und um die Erkenntnis reicher geworden, dass ich nie wieder am 23.12.
Geschenke einkaufen werde. Ich kann mir nicht vorstellen, was morgen am 24.12.,
in der Stadt los sein wird, weiß nur, dass ich nächstes Jahr dabei bin.
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